Am 25.05.2022 berichtete das Regionaljournal Bern Fribourg Wallis über die tiefe Leerstandsquote des Wohnungsbestands der Stadt Thun. 0.17% betrug diese zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Berichts und lag damit auf gleich tiefem Niveau wie dasjenige der Stadt Zürich.
Genau zwei Jahre später gingen in Zürich tausende Menschen auf die Strasse und demonstrierten für mehr bezahlbaren Wohnraum. Die Problematik ist vielschichtig und schwer greifbar. Sie handelt von Urbanisierung, Zersiedelung, Landflucht, Gentrifizierung, Verdrängung und Verdichtung.
Die Folgen sind für Betroffene gut spürbar: Steigende Mietpreise, Aussichtslosigkeit bei der Wohnungssuche, erzwungene Wegzüge, Verlust des örtlichen, sozialen Umfelds, längere Arbeitswege, etc.
Die propagierte Lösung scheint simpel: Es muss mehr und schneller gebaut werden können. Die Umsetzung dieser Absicht gestaltet sich schwierig. Raumplanungs- und Baugesetz, sowie strenger werdende Normen und Vorschriften machen den Bauprozess komplex und langwierig. Bauland als Resource wird stetig knapper und Umzonungen sind nicht nur bürokratisch anspruchsvoll, sondern bedeuten auch aus ökologischer Sicht oftmals eine Reduktion an Lebensraum anderer Organismen und somit den Verlust von Biodiversität.Auch deshalb sollte die bestehende Situation als Grundlage dienen, existierende Raumgefüge und ihren Kontext auf unterschiedlichen Ebenen genau zu analysieren, sowie die bestehende Bausubstanz auf Ihre Potenziale zu prüfen und weiterzuentwickeln.
Beobachtungen in der Thuner Altstadt bieten Anlass zu einer solchen Untersuchung. Das hohe Verkehrsaufkommen am rechten Thunerseeufer führt dazu, dass man sich zu den Hauptverkehrszeiten oft schon auf Höhe der Bushaltestelle "Bächimatt", bei stockendem Verkehr, nur noch in Schritttempo fortbewegt. Es bleibt somit genügend Zeit, den Blick nach rechts auf die historischen Gebäude zu richten, welche den Strassenraum der Hofstettenstrasse definieren und den Beginn der Thuner Altstadt markieren. Erbaut zwischen 1830 und 1840, als sich das ursprüngliche Gewerbe- und Hafenquartier auf den Tourismus ausrichtete, diente das Gebäude an der Hofstettenstrasse 67 als Pension mit Wirtschaft und wurde unter dem Namen "Bellerive" betrieben. Mittlerweile haben dieses und die darauf folgenden Vorstadthäuser trotz ihres denkmalpflegerischen Schutzstatus' ihre Funktion verloren und sind offensichtlich dem Zerfall geweiht. Zwischenzeitlich dienen sie einigen Randständigen inoffiziell als Schlafstätten. Auf dem Weg Richtung Innenstadt, gelangt man über den Verkehrskreisel "Lauitor" in das Gebiet der Gründungsstadt, welche um 1200 auf dem schmalen Streifen zwischen Schlossberg und Aare entstand.
Betritt man an Schlechtwettertagen die Begegnungszone der Oberen Hauptgasse lenken das gelegentliche Knallen eines losen Fensterladens oder das überschiessende Wasser der verstopften Dachrinne die Aufmerksamkeit auf die höheren Etagen der Gebäude an der Oberen Hauptgasse 63, 59 und 57. Bei genauer Betrachtung bemerkt man, dass besagte Häuser unbewohnt sind. Auch die folierten Schaufenster auf Strassenebene deuten darauf hin, dass die dahinter liegenden Gewerbeflächen nicht mehr genutzt werden. Das Schaufenster des Hauses an der Oberen Hauptgasse 31 ist auf die gleiche Art zugeklebt. In der Nische des Hauseingangs riecht es nach Urin und an der Haustür klebt ein Schild, dass das Betreten der Baustelle für unbefugte verbietet. Weit und breit sind keine Bauarbeiter zu sehen. Ursprung des bemerkenswerten Leerstands sind laufende Liquidationsverfahren, denen Medienberichten zufolge unlautere Geschäftstätigkeiten einer Ostschweizer Baufirma vorausgehen. Die Verfahren laufen in Gemeinden der Kantone Zürich und Schwyz. Dementsprechend schwierig gestaltet sich die Informationsbeschaffung und es scheint, als seien die erwähnten Wohngebäude für die bearbeitenden Instanzen nicht viel mehr als abstrakte Wertanlagen in einer Excel-Tabelle, die es im Interesse der Gläubiger, mit idealerweise möglichst geringem Aufwand, zu veräussern gilt.
Es wäre naiv, zu glauben, dass die erwähnte Bausubstanz die prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt lösen kann. Dennoch handelt es sich dabei um schätzungsweise 50-60 Wohneinheiten, welche durch die angedeuteten Geschehnisse seit langer Zeit leer stehen.
Bedenkt man die Tatsache, dass ein langfristiger Leerstand stark zum Zerfall der Bausubstanz beiträgt, besteht eindeutig Handlungsbedarf.
Aus architektonischer Sicht bietet die beschriebene Situation die Möglichkeit, sich auf unterschiedlichen Ebenen mit den Potenzialen des Bestandes und den konkreten Herausforderung im Umgang mit historischen Zentren von Schweizer Städten auseinanderzusetzen und sich die Frage zu stellen, wie wir den urbanen Raum gemeinsam gestalten, beleben und weiterentwickeln möchten. Damit der gesellschaftlich wertvolle Raum in den Städten nicht nutzlos besetzt und das Leben aus den Zentren verdrängt wird, setzen wir uns für einen aktiven Austausch aller beteiligten Interessensgruppen ein. Schliesslich wird aus den geschilderten Beobachtungen folgendes klar: Der bewohnbare und lebenswerte urbane Raum ist keine selbstverständliche Gegebenheit. Er bedarf der bewussten Wertschätzung und Pflege.
Selbstinitiierte Recherchearbeit
Zusammenarbeit mit Joel Zimmerli